Rettungsaktion der Iuventa10. Foto: Amnesty

„Macht was in der europäischen Politik!“

Träger des Menschenrechtspreises von Amnesty International im Jahre 2020 sind die Seenotretter des Schiffes „IUVENTA“

Für Schlagzeilen sorgten nicht nur ihre Aktionen, sondern auch die Reaktion der italienischen Justiz.

 

Bis August 2017 wurden von rund 200 wechselnden ehrenamtlich tätigen Crewmitgliedern mehr als 23.000 Menschen aus Seenot gerettet, von denen mehr als 9.000 Menschen an Bord der IUVENTA aufgenommen wurden. Dann beschlagnahmt die italienische Justiz das Schiff. Beihilfe zur unerlaubten Einreise lautet der strafrechtliche Vorwurf, der zunächst 10 Mitgliedern der Besatzung – den „IUVENTA10“ – gemacht wird. Zusammenarbeit mit Schleppern wird ihnen angelastet. Ein Schuldspruch könnte zwischen sechs und zwanzig Jahren Haft und eine Geldstrafe in Höhe von 15.000 EUR für jede gerettete Person nach sich ziehen.

 

Inzwischen führt die Justiz das Verfahren gegen vier der Beschuldigten fort, gegen die sechs anderen wurde es im März 2021 eingestellt. Neben den vier Besatzungsmitgliedern der IUVENTA stehen noch 17 weitere Personen und insgesamt drei Organisationen (IUVENTA, Ärzte ohne Grenzen und Save the Children) sowie eine Reederei vor Gericht.

 

Die Geschichte des Projekts „IUVENTA“ beginnt 2015. In dem Jahr, in dem Schätzungen zufolge fast 4.000 Menschen bei dem Versuch ertrinken, Europa über das Mittelmeer zu erreichen. In Berlin studieren Jakob Schoen und Lena Waldhoff. Sie arbeiten ehrenamtlich in einer Flüchtlingsunterkunft und wollen das Sterbenlassen im Mittelmeer nicht hinnehmen: „Jeder Mensch hat das Recht, vor dem Ertrinken gerettet zu werden“, sagt Jakob Schoen gegenüber der „taz“. Und seine Mitstreiterin Lena Waldhoff ergänzt: „Wir wollen als Jugendliche klarmachen, so geht das nicht. Wir fordern von Deutschland und der EU: Macht was in der europäischen Politik!“

Gerettet durch die Iuventa10. Foto: Amnesty

Und so gründen die beiden mit weiteren Mitstreiter*innen am 3. Oktober 2015 den Verein „Jugend rettet“. Der Verein findet Unterstützung und im Mai 2016 kann ein alter Fischtrawler gekauft und umgebaut werden. Noch im selben Jahr sticht er als „IUVENTA“ in See. Die Besatzung nimmt schon im ersten Jahr mehr als 4.100 Menschen an Bord, ist an der Rettung von über 3.2000 weiteren Personen beteiligt und gerät damit ins Visier der italienischen Politik und schließlich der Justiz.

 

Die Verhandlungen laufen, noch ist nichts geklärt. Fast jeden Monat sind die angeklagten Crewmitglieder für einen neuen Verhandlungstermin in Trapani. Die Beschaffung der Beweise für die angeblich illegale Vorgehensweise der Seenotretter*innen wirft ein Licht darauf, was Staaten unternehmen, um Menschenrechtler*innen und Aktivist*innen wie die IUVENTA10 zu kriminalisieren: Besatzungsmitglieder werden über Monate überwacht, die Brücke des Schiffes wird verwanzt, Telefonate werden abgehört, verdeckte Ermittler eingesetzt.

 

Und die Ergebnisse dieser Anstrengungen? Inzwischen haben Wissenschaftler*innen der Rechercheplattform „Forensic Architecture“ am Centre for Research Architecture, Goldsmiths, an der University of London die Vorwürfe der italienischen Behörden mit allen verfügbaren nautischen und meteorologischen Daten, Logbüchern, Frontex-Berichten der Einsatztage sowie Foto- und Videoaufnahmen der IUVENTA und der Presseagentur Reuters abgeglichen. Sie halten die Vorwürfe für falsch.

 

Über sechs Jahre nach Beginn der überaus aufwändigen Ermittlungen hat das höchste italienische Gericht, der Kassationshof, im Juli 2023 entschieden, die Klagen auf insgesamt fünf territorial zuständige Gerichte in Trapani, Castrovillari, Palermo, Ragusa und Vibo Valentia aufzuteilen. Die Zuständigkeit wurde danach erteilt, in welchen Häfen die Geretteten nach Search and Rescue-Einsätzen jeweils an Land gebracht wurden. Der Kassationshof entzieht der Staatsanwaltschaft von Trapani damit die Zuständigkeit über weite Teile des Verfahrens, da diese nicht belegen konnte, dass die insgesamt 21 Angeklagten, drei NGO’s und eine Reederei eines, wie es in der Anklage vorgebracht wurde, gemeinschaftlichen Verbrechens beschuldigt werden können. Begleitet wird der Prozess von einer Gruppe aus Beobachter*innen, darunter ECCHR, Amnesty International, Giuristi Democratici, Swiss Democratic Lawyers, European Democratic Lawyers and the European Association of Lawyers for Democracy & World Human Rights. Zu jeder Verhandlung wird ein*e Vertreter*in entsandt und es werden Berichte dazu verfasst.

 

Eine Verfassungsklage der IUVENTA-Anwält*innen vom 12. Mai 2023 gegen Artikel 12 des italienischen Einwanderungsgesetzes beim italienischen Verfassungsgericht und gegen das ihm zugrundeliegende „EU-Facilitators Package“ beim Europäischen Gerichtshof wurde vom Gericht in Trapani in sämtlichen Punkten abgewiesen. Besagter Artikel 12 des italienischen Einwanderungsgesetzes wird als Grundlage für zahlreiche Klagen gegen Aktivist*innen und Migrant*innen herangezogen und stellt die Beihilfe zur ‚illegalen Einreise‘ unter hohe Strafen. Vor allem migrierende Menschen müssen auf Grundlage von Artikel 12 teilweise mehrjährige Haftstrafen verbüßen, weil ihnen vorgeworfen wird, Fahrer*in oder Kapitän*in und damit angeblich verantwortlich für die Einreise aller Personen an Bord zu sein. Auch solidarische Helfer*innen und Organisationen werden auf dieser Grundlage verfolgt. Seit 2013 wurden schon über 2.700 Menschen verurteilt, darunter fast ausschließlich Menschen die selber auf der Flucht sind.

 

Auf ihrer Website äußern sich die Aktivist*innen so:

 

„Während wir es sind, die vor Gericht stehen, haben wir unsere eigene Anklage zu erheben:

  • Wir klagen die europäische Politik an, aktiv gegen Menschenrechte von Menschen in Not zu verstoßen.
  • Wir klagen die EU an, mit autoritären Regimen zu kollaborieren, die die Menschenrechte von Migrant*innen verletzen, wie Libyen, die Türkei und Marokko.
  • Wir klagen die EU an, der Kriminalisierung und Inhaftierung von Menschen auf der Flucht unter Missachtung ihrer selbsternannten Ethik und Prinzipien Beihilfe zu leisten.

 

 

Die Gewalt und willkürliche Kriminalisierung durch das rassistische Grenzregime ist das Verbrechen. Migration ist kein Verbrechen!“

 

Das Schiff liegt im Hafen von Trapani immer noch fest. Es wurde 2021 an einen frei zugänglichen Ort gebracht, an dem das Schiff beschädigt und geplündert wurde. Inzwischen ist die IUVENTA weitgehend zerstört. Ein italienisches Gericht hat 2022 entschieden, dass das Schiff durch die Hafenbehörden in den Zustand instandgesetzt werden muss, den es zum Zeitpunkt der Beschlagnahmung hatte. Da das Schiff zu sinken drohte, wurde es aus dem Wasser gehoben und an Land gebracht. Die Arbeiten am Schiff sollen aber erst nach der Urteilsverkündung im Verfahren gegen die IUVENTA-Crew aufgenommen werden, sodass die Kosten im Falle einer Verurteilung durch die Angeklagten zu tragen sind.

Seenotretter  der Iuventa10. Foto: Iuventa10

 Foto: Moritz Richter